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TIROLER TAGESZEITUNG „Leitartikel“ Ausgabe vom Samstag, 25. Juni 2022, von Christian Jentsch: „Historischer Moment und Zukunftsangst“

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Innsbruck (OTS) – Der EU-Gipfel hat der Ukraine und Moldau offiziellen Beitrittskandidatenstatus verliehen. Die Entscheidung wurde als historisch gefeiert. Doch die Zukunft der Union steht in den Sternen, das Fundament droht zu zerbröckeln.

Angesichts des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine stehe die EU vor der größten Herausforderung seit ihrem Bestehen, heißt es. Von einem geostrategischen Momentum ist die Rede. Im Schatten des Krieges entscheidet sich die Zukunft Europas, erklären europäische Politiker in seltener Eintracht. „Die Ukraine steht an der Frontlinie und verteidigt europäische Werte“, erklärte etwa EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.
Dass die Staats- und Regierungschefs der 27 EU-Länder auf ihrem Gipfel in Brüssel die angegriffene Ukraine und im Schlepptau auch die Republik Moldau im Eiltempo in den Kreis der EU-Beitrittskandidaten aufnahmen, war daher das folgerichtige Signal in Richtung Kiew, aber auch in Richtung Moskau.
Doch was folgt nun? Die Verleihung des Kandidatenstatus bedeutet noch lange nicht den Beginn von Beitrittsgesprächen, die Länder des Westbalkans können ein Klagelied davon singen – Nordmazedonien ist etwa schon seit 2005 offizieller EU-Beitrittskandidat und wartet immer noch auf den Beginn der Gespräche. Eine EU-Vollmitgliedschaft ist für die Ukraine, die Republik Moldau, aber auch für die Länder des Westbalkans ohnehin in weiter Ferne. Wobei die sechs Länder des Westbalkans schon seit Jahren im Wartesaal der EU gefangen sind und sich die europäische Perspektive langsam am Horizont verliert. Was die Ukraine betrifft, ist freilich eines klar: In Sachen Rechtsstaat, Korruptionsbekämpfung und Wirtschaftsstruktur steht dem riesigen Land noch ein langer und steiniger Weg bevor, um europäische Standards zu erreichen. Dass der Ukraine von Seiten der EU der Kandidatenstatus zugesprochen wurde, ist in erster Linie ein symbolischer Akt. Der Weg ist vorerst das Ziel. Der Weg in Richtung Europa.
Doch Europa selbst scheint seine Zukunft aus den Augen verloren zu haben. Zwar präsentiert sich die Union gegenüber Russland demonstrativ einig (auch wenn zuletzt einige Risse sichtbar wurden), doch wohin sich die EU entwickeln soll, ist alles andere als ausgemacht. Das Ziel einer immer enger werdenden politischen Union scheint jedenfalls in weite Ferne gerückt zu sein. Der Reformeifer des französischen Präsidenten Emmanuel Macron in Sachen Modernisierung der Union wird nicht nur in Budapest und Warschau nach Möglichkeit torpediert oder ignoriert. Sogar der Vorrang von EU-Recht wird in Frage gestellt. Was bliebe, wäre eine lose Wirtschaftsgemeinschaft ohne gemeinsames Fundament. Ja, die EU muss sich den neuen geopolitischen Herausforderungen stellen. Sie muss aber auch aufpassen, sich nicht selbst zu demolieren.

Tiroler Tageszeitung
0512 5354 5101
[email protected]

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