Ausgabe vom 20. Juli 2022
Innsbruck (OTS) – Die EU legt einen Zahn zu bei der Vergrößerung der europäischen Familie. Vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs geht es wieder um Einflusssphären und den Schutz des eigenen Zivilisationsmodells.
Das europäische Glas hat in den vergangenen Jahren oft halb leer ausgesehen. Großbritannien kehrte der EU den Rücken; Frankreich und andere stemmten sich gegen die Aufnahme neuer Mitglieder; nationalkonservative Kräfte in Polen, Ungarn und anderswo bremsten bei einer engeren Zusammenarbeit. Es herrschte Uneinigkeit über den europäischen Mehrwert und die finale Konfiguration der EU.
Dann kamen die Krisen. Sie haben der europäischen Politik einen Schub verpasst. Schon der Weg aus der Pandemie nötigte die EU-Staaten zu mehr Kooperation – bis hin zum Kraftakt, erstmals gemeinsam Schulden aufzunehmen. Der Ukraine-Krieg bewirkt gerade dasselbe in der Sicherheits- und in der Energiepolitik. Und er verändert den Blick auf die Nachbarn. An die Stelle des Streits um Erweiterung versus Vertiefung treten historische und geopolitische Zusammenhänge. Die Erweiterungen seit 2004 hatten in der EU für einen Kater gesorgt – wegen antidemokratischer Tendenzen und ungelöster Konflikte bei einigen der neuen Mitglieder. Doch wo stünde Europa heute in der Auseinandersetzung mit Kremlchef Wladimir Putin, hätte es diese historischen Gelegenheiten nicht genützt? Zur Erinnerung: Es war ein Assoziationsabkommen mit der EU, das 2014 Putins Intervention in der Ukraine auslöste; er wollte ihre West-Anbindung verhindern. Plötzlich geht es wieder um Einflusssphären und um den Schutz des eigenen Zivilisationsmodells vor dem wachsenden Einfluss autoritärer Regime – voran jenen in Moskau und Peking. Erst vor wenigen Wochen hat die EU die Ukraine und Moldau zu Beitrittskandidaten und damit gleichsam zu Mitgliedern der eigenen politischen Familie erklärt. Auch am Westbalkan, der seit Jahren im EU-Vorzimmer darbt, geht nun etwas weiter. Gestern haben die Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien und Albanien begonnen. Vor allem Nordmazedonien gilt schon lange als Vorzugsschüler. In all diesen Ländern haben sich aber nicht die Voraussetzungen vor Ort entscheidend verbessert, sondern die neue politische Großwetterlage hat eine neue Dringlichkeit ausgelöst. Davon profitiert auch Österreich, das aus eigenem Interesse für den Westbalkan lobbyiert.
Bis die EU das nächste Mal wächst – falls überhaupt –, vergehen Jahre. Dazwischen liegen die Mühen der Ebene und vermutlich weitere politische Blockaden. Es ist beileibe kein Selbstläufer, dass Europa größer und widerstandsfähiger aus den Krisen hervorgeht. Aber sie haben für den Moment den politischen Willen erzeugt, aus Europa mehr zu machen als bisher. Zumindest gestern beim Auftakt der Beitrittsgespräche wirkte das europäische Glas halb voll.
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Der Beitrag TIROLER TAGESZEITUNG, Leitartikel: „Politische Willensakte“, von Floo Weißmann erschien zuerst auf TOP News Österreich – Nachrichten aus Österreich und der ganzen Welt.