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TIROLER TAGESZEITUNG „Leitartikel“, vom 27. Juni 2022, von Michael Sprenger:“Dreierkoalition, die neue Normalität“

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Innsbruck (OTS) – In den meisten EU-Ländern regieren Koalitionen mit drei oder mehreren Parteien. Auch in Österreich könnte dies bald Realität werden, selbst in Tirol. Das bedeutet nicht Unregierbarkeit, hat aber viel mit den Krisen der Volksparteien zu tun.

Ein Blick zurück. Heute vor einem Jahr lieferten sich in Deutschland Grüne und CDU/CSU in Umfragen ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Dann passierten Pannen. Zuerst auf Seiten der Grünen, dann bei der Union. Klammheimlich holte die totgesagte SPD mit ihrem Kanzlerkandidaten Olaf Scholz auf. Am Wahltag hatte dann die SPD die Nase vorne. Scholz’ Wunschkoalition von Rot-Grün hatte zwar keine Mehrheit, doch es sollte eine Ampelkoalition mit FDP und Grünen werden.
Die heimischen Sozialdemokraten schauten verwundert nach Berlin. Könnte auch hierzulande die SPÖ so eine Überraschung liefern? Das war vermessen, aber man sprach sich Mut zu: Es ist immerhin möglich. Zwei Wochen nach der deutschen Bundestagswahl war plötzlich alles anders. In der ÖVP reihte sich ein Korruptionsvorwurf an den anderen. Sebastian Kurz musste letzten Endes die Konsequenz ziehen und trat als Kanzler (zwei Monate später als ÖVP-Obmann) zurück. Die ÖVP verlor dramatisch in der Wählergunst – und traf sich auf niedrigem Niveau mit der SPÖ.
Und jetzt? Anhaltende Korruptionsvorwürfe, Teuerung und ein Missmanagement in der Pandemie später zeigen Wirkung. Die SPÖ liegt in Umfragen bereits zehn Prozentpunkte vor der Kanzlerpartei, die derzeit mit der FPÖ um den dritten Platz rittern muss. Plötzlich scheint der Traum, der sich für die SPÖ bei der 2017er-Wahl in nichts auflöste, realistisch zu sein. Eine Ampelkoalition.
Koalitionen mit drei oder mehreren Parteien sind in EU-Ländern mit Verhältniswahlrecht zur Normalität geworden. Ein Blick nach Deutschland und Salzburg zeigt, dass dies keinesfalls Unregierbarkeit bedeutet. Mehrparteienkoalitionen sind die Antwort auf eine Zersplitterung der Gesellschaft. Neue Parteien entstehen. Damit einher geht auch die Tatsache, dass christdemokratische und sozialdemokratische Volksparteien diesen Wandel nicht mehr ausgleichen können. Und kommen dann noch wie bei der ÖVP selbstverursachte Krisen hinzu, kann es sehr schnell gehen mit dem Absturz. Selbst im schwarzen Tirol könnte es bald zu einer Dreierkoalition kommen, wenn auch unter ÖVP-Führung. Die Tiroler ÖVP liegt bei knapp 30 Prozent. Und als Nächstes fließt der Inn aufwärts? Ja, es gibt Abwehrhaltungen bei den früheren Großparteien. Vor allem die Strukturkonservativen in der SPÖ wollen lieber mit der ÖVP koalieren, als etwas Neues auszuprobieren. Dabei sollten sie es wissen: In Gefahr und großer Not bringt der Mittelweg den Tod.

Tiroler Tageszeitung
0512 5354 5101
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